Gedanken über Osnabrück aus dem Wiener Lockdown

Einreisen kann ich als Wahlwienerin offiziell nur unter Quarantäneauflagen; 10 Monate war ich nicht mehr in Osnabrück. Und während sich die Hälfte der Stadt fragt, wann die Ausgangssperre kommt, wundere ich mich, warum man die schönsten Träume von Osnabrück im Wiener Lockdown träumt.

„Osnabrück? Wo ist das denn?“, fragen mich die Wienerinnen jedes Mal, wenn ich ihnen von meiner Heimatstadt erzähle. Ich sage dann, dass das bei Hamburg liegt, denn Hamburg kennt man überall, und jede von uns, die einem Haufen US-Amerikanerinnen im Thailand-Urlaub schon mal erklären musste woher sie kommt, weiß, wovon ich rede.

Aber wer seine Jugend in Hamburg verbracht hat, der wird nicht verstehen, was wir in Osnabrück erlebt haben – wir, die am EMA oder im Schinkel zur Schule gegangen sind, um uns freitagabends in den Clubs in Güterbahnhofsnähe die Snobs vom Carolinum schönzusaufen. Ausgestattet mit Red-Bull-Wodka in der Hand und Cola-Korn kümmerte es uns nicht, ob wir uns mit denen aus Walle oder vom Westerberg besoffen: In der Nacht war in dieser Stadt alles möglich.  

Im Wiener Lockdown wirkt das alles so weit weg, und ich glaube, es kommt nie wieder. Vielleicht kann ich meine Familie in zwei oder drei Monaten sehen, vielleicht erst zu Weihnachten, wer weiß das schon. Gestern und heute sind nicht mehr, alles ist nur noch mein gelbes Sofa. Deswegen träume ich so viel von meinen Schuljahren in letzter Zeit: Es ist mein Unterbewusstsein, das das kleine Osnabrücker Nachtleben in meinem Kopf zu etwas Großem heraufbeschwört. So wird es zu einem Mythos, den es so wahrscheinlich nie gegeben hat.

Damals mit 18 hatten wir dummen weißen Kids noch keine Ahnung vom Klassenunterschied – und ich meine nicht den zwischen der 11a und 11b. Wir wussten nicht, dass es etwas bedeutete, ob du aus einem Bildungsbürgerhaushalt aus dem Katharinenviertel kommst oder aus einem Gastarbeiterplattenbau in Haste. Aber spätestens als es darum ging, wer Medizin oder Jura in München studieren sollte, wurde klar, dass Herkunft doch etwas zählt. Nicht nur deswegen haben die mit Talent, aber ohne die nötigen Kontakte die Stadt Richtung Berlin und Castrop-Rauxel verlassen, um sich an Weihnachten in der Kleinen Freiheit immer wieder in den alten Geschichten zu ertränken.  

Aber was machten diese Unterschiede damals im Mondflug, im Sonnendeck, was zählte das in der Freiheit, wo wir Wochenende für Wochenende unser Osnabrücker Glück fanden und dachten, es würde ewig so weitergehen? Sehr wohl zählte das alles etwas im Alando, wo vermutlich der hochgestellte Kragen erfunden wurde und die Türsteher das Hausrecht so aggressiv gegen Migratinnen durchprügelten, dass ich mich heute noch schäme, dort jemals mit langweiligen Biodeutschen abgestürzt zu sein.

In den vielen anderen Clubs war so viel Liebe in der Luft, so lange bis die letzten von uns grölend in die Altstadt zogen und der Nebenjob im Callcenter alleine deswegen Sinn ergab, weil genug Geld übrig war, um dem Opa in Gerdas Frühgaststätte einen Sambuca auszugeben. Jetzt, da kein Club mehr aufhat, jetzt, da niemand mehr tanzen geht, meine ich, dass die Tanzflächen von Osnabrück mich am besten gehalten haben.

Ich erinnere mich an ein Cäthe-Konzert im Rosenhof mit meiner besten Freundin. Die Hälfte hatten wir bereits verpasst, weil der Wein so billig war und wir uns so lange nicht gesehen hatten. Als wir es doch noch in den leeren Moshpit schafften, weil Osnabrück so eine seltsame Mischung an echtem Musikverständnis und vollkommener Ignoranz an den Tag legen kann, tanzten wir zu Ich muss gar nichts. Das haben wir gelernt in Osnabrück, wo sowieso jeder über jede redet: Wir lernten so zu sein, wie Jungs immer schon sein durften. Wir überholten sie sogar, denn meine beste Freundin und ich waren immer noch die Lautesten an der Theke. Und unsere Schwestern in der Freiheit und im Mondflug waren noch viel lauter.

Aber in einer Stadt, die 50 Wörter für Regen hat, müssen zwangsläufig Menschen leben, die gerne reden. Dieses unnachahmliche Sabbeln habe ich in meinem Wiener Lockdown oft im Ohr. Ich erinnere mich, wie ich 2019 auf dem Weihnachtsmarkt am Dom überhörte, wie eine Frau ihren Mann fragte, ob er „Schampingjons“ essen wolle.
„Die mach ich doch gar nicht“, antwortet er darauf schroff, was bei uns nicht heißt, dass er sie selber nicht zubereitet, sondern dass er sie einfach nicht mag. In Osnabrück überhörst du solche Gespräche dauernd, weil dir jeder alles platt vorn Kopf sagt. Da schlägt das Norddeutsche durch, da isst man nichts, was man nicht mag – und man sagt nichts, was man nicht denkt.

Selbst, wenn es mich viele Nerven gekostet hat und vieles in dieser Stadt so kleingeistig sein kann, dass die Flucht nach Wien der einzige Ausweg schien: In den letzten Jahren hatte ich wegen Osnabrück öfter Pipi in den Augen, als ich es zugeben wollte. Weil ambitionierte Linke die AfD vom Rathausplatz pfiffen oder weil die Stadt die ersten geflüchteten Kinder aus Moira aufgenommen hatte. Auch jetzt gehörte Osnabrück zu den ersten deutschen Städten, die kostenlose Corona-Teststationen einführten, um Cluster zu durchbrechen und andere zu schützen. Das linke Osnabrück, das gegen soziale Probleme, Rassismus und die Ungleichheit der Geschlechter kämpft; das ist jenes, von dem ich meinen Wiener Freundinnen am liebsten erzähle. Nur diesem fühle ich mich noch zugehörig.

Und wenn solche Nachrichten auch in Wien groß in den Medien sind, sage ich: „Osnabrück ist übrigens meine Heimatstadt.“
Auf die Nachfrage, wo zum Teufel das denn sein soll, füge ich nur noch leise hinzu: „Irgendwo bei Hamburg halt.“


 [LN1]https://www.noz.de/lokales/osnabrueck/artikel/2088636/afd-demo-vor-dem-osnabruecker-rathaus-von-gegnern-uebertoent

 [LN2]https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-04/fluechtlinge-griechenland-fluechtlingslager-kinder-aufnahme-osnabrueck

 [LN3]https://taz.de/Auf-der-Suche-nach-Infizierten/!5748510/

Was das Lesen mir bedeutet

Bevor ich eine Entscheidung treffe, bevor ich mich wahrhaftig auf etwas einlasse, muss ich erst einmal darüber lesen. Ich gehe dann in die Bibliothek der Stadt, leihe so viel aus, wie ich tragen kann, und dann lese ich – lese ich alles, was ich verschlingen kann. Ich kann kaum noch Entscheidungen treffen, ohne, dass ich etwas dazu gelesen hätte. Allerdings hat das nichts damit zu tun, dass ich eine Affinität zum Analytischen hätte. Noch, dass ich mich für besonders schlau halte. Nein, ich glaube nur fest daran, dass ich nicht falsch liegen kann mit Dingen, die proasisch durchdacht worden sind; die mich vom Papier aus ansprechen und damit unumstößlich als meine momentane Wahrheit gelten.

Ich gestehe, das mit dem Lesen ist in den letzten Monaten ein bisschen aus dem Ruder laufen. Seitdem ich morgens schwerer aus dem Bett komme, lese ich fast jeden Tag ein Buch. Es kommt dabei natürlich ganz auf die Länge an, aber auch die sogenannten dicken Wälzer verschlinge ich innerhalb von Tagen, ich schaue dabei immer auf die Uhr, immer auf die Seitenzahl. Es ist, als sei ich gehetzt, dabei hat mich niemand aufgefordert in einem Jahr über 300 Bücher zu lesen, es ist einfach so passiert. Ich frage mich nicht, wie lange ich noch leben werde. Ich frage: Wie lange werde ich noch lesen können?

Wenn andere Menschen ihre schlechten Gedanken ignorieren wollen, greifen sie meistens zu ihrem Telefon, ich aber greife zu den Büchern. Bücher, Romane wohlgemerkt, gaukeln mir außer ihrer Fiktionalität nichts weiter vor; alles, was dort geschrieben steht, bleibt haften, die Geschichte, wenn sie gut gemacht ist, wirkt von sich aus schlüssig und es gibt nichts, was ich später darüber erfahren werde. Natürlich kann ich selbst etwas hinein interpretieren, aber ich habe kein Gegenüber, dass mir nach Wochen plötzlich eine ganz andere Wahrheit entgegen klatscht, mich für etwas anklagt, was lange vergangen ist. Das Buch ist gedruckt und wird weiterhin so bestehen. Das Buch hat mich noch nie belogen.

Ich wollte zu meditieren anfangen, schiebe es aber auf, weil ich mir noch keine Literatur dazu ausgeliehen habe. Ich denke schon länger darüber nach ein Buch über Gewalt an Frauen fertig zuschreiben, es hält mich alleine auf, dass ich die Lektüre dazu noch nicht beendet habe. So vergehen die Abende – die Tage sind meist voll mit Arbeit, die übrigens auch zum Großteil mit Lesen zu tun hat – auch lese ich schon am frühen Morgen, auf der Toilette, am Frühstückstisch. Mir fällt es schwer, mich auf andere Dinge zu konzentrieren. Unterhaltungen halte ich nurmehr aufrecht, wenn ich weiß, dass ich später im Bett lesen kann, die wahre Nachtruhe finde ich zwischen den Seiten. Ich lese aber auch auf meinem eigens eingerichteten Sessel am Fenster, manchmal zieht es mich an den Küchentisch oder auf das Sofa, aber es wird der Außenwelt schwer fallen, mich ohne ein Buch anzutreffen. Eher verliere ich einen Arm. So vertreibe ich mir auch das Warten an der Haltestelle, im Wartezimmer, im Zug durch Europa.

Ich glaube nicht an Esoterik, aber ich glaube daran, dass Romane mich retten können. Ich glaube, dass ich – solange ich darüber gelesen habe – alles im Leben schaffen kann. Ich kann jeden Feind besiegen, auch die Feindin in mir selbst. Ich kann jeden schlechten Tag überleben, wenn da nur ein gutes Buch auf dem Nachttisch auf mich wartet. Ich werde immer einschlafen können, solange mich Jelinek, Elsner und Lispector mit ihren Worten in den Schlaf wiegen. Solange ich lese, ist die Nacht noch nicht verloren.

Wiener Wohnzimmer

Als Kind hatten meine Eltern mich nie auf mein Zimmer geschickt, wenn ich Blödsinn verzapft hatte. Daher war ich dieser Räumlichkeit freundlich gegenüber eingestimmt und ließ mich in diesem Frühling, der für uns alle ein riesiger Einschnitt in unser Leben war, von einer Reise durch mein Zimmer einnehmen.

Eine Wand aus warmer Luft lag vor meinem Gesicht und drohte von hier aus mein Gehirn zu benebeln. Ich sehnte mich nach dem kalten Wind auf der Straße, der manchmal durch Wien zog. Ich brauchte Abkühlung und dachte an den Sprinkler im Garten meiner Eltern, an mein Elternhaus, alles verkauft, und damit fort. Dieser Raum für immer verschlossen.

Ich erinnerte mich an jeden Sommer meiner Kindheit, in dem ich abends dafür gebetet hatte, niemals meine Periode zu bekommen, wenn ich Stunden zuvor zu einem klingelnden Eiswagen gelaufen war, um mir zwei Kugeln Vanilleeis für achtzig Pfennig zu kaufen. Sechs Wochen Ferien vorbei und ich nicht älter geworden, keine Periode bekommen, nur ein Autounfall in der Umgebung, ein Mensch weniger auf dieser Welt.

Ich saß auf meinem neuen senfgelben Sofa und legte alle Karten vor mir selber offen. Ich ließ mich auf diese erste Reise in meine Erinnerung ein und dachte darüber nach, wo ich im letzten Sommer gelandet war, als ich noch nicht in Wien lebte, als wir alle noch an die heilende Kraft des Sommers geglaubt hatten.

Ich lag plötzlich in einer Hängematte in Leticia, einem Grenzdorf Kolumbiens. Ich fuhr auf einem Dampfer auf dem Amazonas, der in Richtung Belem unterwegs war, das ist die erste große Stadt direkt an der Pazifikküste Brasiliens. Die Tage auf dem Boot wurden schnell langweilig und nach einer Woche war auch noch der letzte von uns Touris spirituell zu sich gekommen. Auf meinem Sofa erinnerte ich mich an das sanfte Ruckeln des Dampfers und die alles in sich aufsaugenden Augen des Regenwalds, der nur in der Nacht zum Babylon der Tierwelt wurde. Über Tag war er stets ruhig geblieben, aber wenn die Sonne untergegangen war, hatte sich vor uns ein Kauderwelsch an Kreischen, Ächzen und Wähnen in unmittelbarer Nähe eröffnet. Das Außenbild aber veränderte sich nicht, der Rio Amazonas wurde entweder breiter oder enger, aber das Wasser hatte mich die gesamten zehn Tage an braunes Spülwasser erinnert, an einen riesigen White Russian, wie gemein, denn der Dampfer fuhr unter christlicher Flagge und Alkohol war gänzlich verboten.

So verbrachte ich die heißen Tage an der Reling am Wasser und die kühlen Nächte auf einer Hängematte. Über mir stapelten sich Kolumbianerinnen und Brasilianerinnen – für sie war der Amazonasdampfer ein Pendelschiff – denen stetig Körpergerüche entwichen, während sie sich vom Rhythmus des Amazonas durchrütteln ließen. Unvergessen blieb mir, auch jetzt, hier vom Sofa aus, der Ausflug, den wir ein einziges Mal mit einer Gruppe ans Festland unternahmen, was äußerst gefährlich war, den zur Abfahrt gab das Schiff nur einen Ton von sich und dann war es meist schon am Horizont verschwunden. So rasten wir auf einen Hügel in einem kleinen brasilianischen Ort, um dort nach einer Art Späti zu suchen. Jeden Stein nahmen wir mit, jedes Holzbrett, dass uns weiter in Richtung Dorf führte, Hunde liefen zwischen unseren Beinen und am oberen Ende der Straße stand eine Hütte, die nicht einmal ein Licht besaß, aber dafür einen funktionierenden Kühlschrank. Wir kauften alles, was wir kriegen konnten, unser Schicksal konnten wir nicht greifen: Wir hatten das kühle Gold gefunden, nachdem wir gefühlte Jahrhunderte gesucht hatten.

Ich sah unser Glück deutlich vor mir, hier auf dem Sofa, das Glück, das solange angehalten hatte, wie die Dose Flüssiges hergab, und mir fiel auf, dass ich erst jetzt begriff, was für ein Abenteuer wir damals wirklich erlebt hatten. Auf meinem senfgelben Sofa breitete sich das frische, aber morastige Grün des Amazonas aus. Umgarnte mich wie eine Zimmerpflanze, wuchs an meiner Haut langsam weiter und immer höher. Alles, was ich zu tun hatte, war es geschehen zu lassen, mich davon vereinnahmen zu lassen. Aber warum überhaupt reisen, wenn sich alles Schöne daran erst im Nachhinein erschließt? Wenn das Glück in dem Moment nicht bei uns ankommt?

Es war spät und der Amazonas hatte mich wieder in die Nacht Wiens entlassen. Ich wurde auf mich selbst zurückgeworfen und musste mich meinem Raum widmen und meiner eingeschränkten Wohnung, die nicht viel Platz zum Schlafen, aber umso mehr zum Denken hergab. Die schönsten Träume der Freiheit träumte man angeblich in geschlossenen Räumen und meine Träume warteten auf mich als ein grenzenloser Raum, unerschlossen und dadurch so unerreichbar wie ein Hotelzimmer für den Tagesgast einer venezianischen Kreuzfahrttour.

Ein kleines Licht leuchtete vom Kaffeetisch auf mein weißes Bücherregal aus unechtem Holz, für mehr hatte das Geld nicht gereicht in meiner neuen Bleibe, aber ich träumte bereits von einem riesigen Kirschholzregal. Von oben würden dann grüne Bibliothekslampen auf eine Leiter scheinen, die ich erst besorgen konnte, wenn meine Decke hoch genug war und meine Bücherauswahl bis an diese heranreichte; wenn ich Geld zum Ausgeben hatte, irgendann vielleicht, wer wusste das in diesen Zeiten schon.

Die meisten meiner Bücher handelten von Narren, die auf Märkten ihre Geschichten aus aller Welt erzählten oder von Seefahrerinnen, die von einer Odyssee zurückkamen und die Menschen um sich herum für eine Geschichte versammelten. Unnütz kamen mir die heutigen Reisebücher vor in einer Zeit, in der sowieso jeder überall gewesen war. So entstanden sie dann auch, diese Reisebücher, die alleine von Marketingkonzepten lebten und dabei keine wahrhaftigen Geschichten hervorbrachten. Stattdessen handelten sie von Reisenden, die mit einer geringen Menge Geld um die Welt reisten, oder mit dem Taxi, oder mit dem Fahrrad, oder mit ein paar verrückten Freunden, die im Nachgang gar nicht so verrückt waren, wie es der Leserin suggeriert worden war. Literatur spielte im Segment Reise sowieso keine Rolle mehr: Das war eindeutig ein Grund, um schlafen zu gehen.

Es war Nacht und ich baute mein Zelt in meinem Zimmer auf. Natürlich hätte ich in meinem Bett schlafen können, viel gemütlicher sogar, weich gebettet auf einem Kissen, unter einer leichten, sommerlichen Decke! Aber ich musste diese Reise genauso ernst nehmen, wie jede Reise, die ich in meinem Leben unternommen hatte. Ich legte mich also in das Zelt hinein und deckte mich mit dem Schlafsack zu, obwohl es das gar nicht brauchte. Vor wilden Tieren war ich hier sicher, vor einem guten Frühstück allerdings auch. Ich erinnerte mich an den Kaffee aus meinem letzten Italienurlaub und nahm mir vor, mir diesen am kommenden Morgen zuzubereiten. Ich roch bereits das erdig-süßliche Aroma und befand mich urplötzlich in Italien, in der Emilia-Romagna, am Küchentisch meiner lange verstorbenen Nonna, vor mir die Plastikdecke voller aufgemalter Kirschen und Orangenhälften. Ich hörte Nonnas Geschrei, während sie den Kaffee in einer kleinen Mokkamaschine zubereitete, und ich versuchte über das erste Blubbern hinweg herauszufinden, was es zum Abendessen gab. Und während ich an die Zeltdecke schaute, die mir jeglichen Blick auf mein Zimmer versperrte, war ich bereits tiefer unten im Süden angekommen.

In Palermo trank ich einen schweren Rotwein und rannte durch die Felder Kampaniens, umgeben von Hunderten Büffeln, die mich umrahmten, denen ich so unterlegen war, dass ich hoffte, sie würden nicht zu mir zur Seite schauen. Ungerecht erschien es mir plötzlich, in meinem Zimmer eingesperrt zu sein. Einsam erschien es mir, den Sommer alleine in meinem Zimmer verbringen zu müssen. Aber ich hatte keine Wahl, niemand von uns hatte das. Ein Trost blieb mir dennoch. In mir wohnte eine ganze Welt, ich konnte überall hinfahren, solange ich nur auf meinem Sofa sitzen blieb.

Es war Morgen, die erste Nacht in der erdachten Wildnis hatte ich überstanden. Ich streckte meine Beine aus und öffnete das Zelt. Der Raum wär über Nacht abgekühlt, ich tastete mich hervor, suchte nach einem Anhaltspunkt. Draußen vor dem Fenster braute sich ein Gewitter zusammen, der Sommer versprach äußerst lang zu werden. Ich traute mich auf das Parkett hervor. Ich war jetzt mitten in einer kanadischen Wildlandschaft gelandet, ein Reh huschte vor meinen Hausschuhen entlang, das Zirpen eines Insekts machte sich in meinem Gehörgang breit. Es ließ mich eine Weile nicht los, so dass ich danach schlagen musste, den Feind nicht eine Sekunde im Blick. Dann nahm ich das zahme Insekt auf die Hand und setzte mich auf einen mit Gras bedeckten Stein. Ich schob meinen Pulli weiter über den Hals nach oben ins Gesicht, ein diesiger Wind hatte von meiner Umgebung Beschlag genommen. Ich schaute mich nach Tieren um, denn Bären waren das letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte. Stattdessen sah ich einen Menschen. Ein Menschen mit einem riesigen Gewehr in der Hand und einer Pfeife im Mundwinkel.

„Entschuldigen Sie?“, traute ich mich zu fragen.

Eine Frau mittleren Alters drehte sich zu mir um. Ich hätte das aus der Ferne nicht erkannt, aber jetzt stand dieses Prachtstück – und das musste man bei ihrer gewaltigen Präsenz zugeben – vor mir und schaute mich entgeistert an.

„Ich kann Sie heute nicht mitnehmen“, ließ die Frau betont sachlich verlauten. „Wir stecken direkt in der Wildsaison, das ist eine riesige Arbeit, das kostet zu viel Zeit.”

„Das ist kein Problem“, stammelte ich, obwohl ich nicht wusste, wovon sie sprach.

Dann ließ ich die Frau weiterziehen und sah, dass sie einen kleinen Aschehaufen im Gebüsch hinterlassen hatte, der Rauch ihrer Pfeife zog über ihren hinfortschreitenden Kopf hinweg.

„Ich glaube, wir müssen zusammenhalten“, flüsterte ich dem Tier auf meiner Hand entgegen. Erst jetzt sah ich, dass es sich um eine Heuschrecke handelte, eine grün-violette, die sich mir zahm entgegenstreckte, womöglich wollte sie von mir gestreichelt werden, ich hatte so etwas noch nie gesehen und doch passierte das alles direkt in meinem Zimmer.

„Warte, ich mache uns einen italienischen Kaffee“, erklärte ich der Heuschrecke, die Anstalten machte, wegzuspringen. „Du darfst jetzt nicht gehen, unsere Reise fängt doch gerade erst an.” Ich setzte die Heuschrecke auf ein grünes Blatt ab und spazierte mit festem Glauben an ihre Treue in meine Küche. „Soll ich denn ab jetzt ganz alleine bleiben?”, fragte ich sie noch. Als ich wiederkam, war sie verschwunden.

Das Buch ist tot – es lebe die Literatur

Es ist schon ein sonderbares Zeichen einer Literaturindustrie, das sie gleichzeitig Neues erschaffen will, aber dafür die immer gleichen Schubladen öffnet, damit jedes neue Talent darin Platz nehmen kann, um den Umhang der eigenen stilistischen Individualität abzustreifen. Denn alles, was auf dem Buchmarkt erscheint, hat die eigene Stimme längst verloren und jede Autorin, die bei Agenturen – unverlangt eingesandte Manuskripte werden schon lange nicht mehr bei Verlagen gelesen – vorstellig wird, weiß genau, welche Floskeln sie benutzen muss, um zunächst einmal gesehen zu werden. Alles das, um bloß keine neuen Schubladen zu öffnen, um den Leserinnen bloß keine neuen Denkweisen zu eröffnen; das Altbekannte verkauft sich meist am besten.

Der große Branchenbringer ist das Sachbuch. Mit einem 5,5 % Umsatzplus im Jahre 2018 alleine muss uns allen nun bewusst sein, wohin die Reise geht. In den Abgrund der Simplifikation von komplexem Wissen hin zu kleinen, verträglichen Häppchen, die das große Ganze konsumierbar machen. Hat Barthes 1967 noch den Tod des Autors vorausgesagt, muss heute gelten: Der Autor, die Autorin bestimmt den Markt wie keine andere, lebendiger als alles andere, aber nicht mit echter Macht ausgestattet, sondern nur mit einer scheinbar individuellen Persönlichkeit, die vorher längst von Agentinnen und Lektorinnen zunichtegemacht wurde. Oder wie Adorno und Horkheimer 1944 schon attestierten: „Alle Verstöße gegen die Usancen des Metiers, die Orson Welles begeht, werden ihm verziehen, weil sie als berechnete Unarten die Geltung des Systems umso eifriger bekräftigen.“

Der Buchmarkt überschlägt sich derweil mit Trendthemen. Kaum ist der Feminismus am Zug, kaum der Klimawandel in aller Munde, schon wird der Buchmarkt bereits in der nächsten Saison mit Titeln dieser Art, es liegt in der Ironie der Sache, überschwemmt. Es kann eins noch dümmer als das andere sein, was hier erscheint, eins noch unfundierter, als das andere: Wenn das Thema läuft, dann laufen alle mit und können sich an ihrer eigenen Formbarkeit nicht mehr sattsehen; wieder haben sie der Kunst ein Schnippchen geschlagen, wieder hat die Industrie gesiegt und die Literatur musste den Ring verlassen. Kaum eine Persönlichkeit, die im Internet gehypt wird, die nicht spätestens ein halbes Jahr später mit einem Nonsensthema auf dem Buchmarkt erscheint. Jeder, der in den Medien auftritt, wird schon bald in den Bücherregalen stehen und uns den Ruhm nahbarer machen.

Eine der Verliererinnen ist dabei die Literaturkritik, die sich systematisch um ihre eigene Hegemonie gebracht hat, indem sie jedem Hype folgen musste, ohne dabei ihre ästhetischen Parameter aufrechtzuerhalten und zu schützen. Die Laienkritik im Internet auf Amazon und lovelybooks.de, auf Instagram und Twitter hat die professionelle längst überholt – zumindest vom ökonomischen Standpunkt aus. Es ist egal, wie ästhetisch ein Werk gelungen ist, und ob von FAZ bis taz die Kritikerinnen ihre snobistische Nasen bei der Lektüre müde rümpfen, wichtig ist heute alleine was die Userinnen zu sagen haben: Den Lauf der Zeit erkennt die professionelle Literaturkritik schon lange nicht mehr an – und sie ist selbst schuld daran.

Währenddessen können die, die Buchprodukte wie in einer Fabrikhalle für Verlage nurmehr nur noch herstellen, nicht einmal davon leben, wenn sie sich gleichwohl so vehement verkaufen müssen. Kaum eine Marge von 10% wird in den Verträgen überschritten, hohe Vorschüssen winken nur denen, die längst ihren eigenen Stil aufgegeben haben und sich mit dem Müll, der den Konsumentinnen als Kunst verkauft werden, identifiziert haben. Der Ruhm, der diesen armen Seelen winkt, kann ihnen dann nicht mal den Kauf einer Wohnung gewährleisten, kaum eine Autorin oder ein Autor, der vom Beruf leben kann, was von den Verlagen wiederum dadurch begründet wird, dass es ja schon immer so war, und folglich auch immer so bleiben muss. Als Totschlagargument dient seit jeher die eigene Wirtschaftlichkeit. Es müssen Mitarbeiterinnen durchgefüttert werden bei den großen Publikumsverlagen; Mieten bezahlt, Bestseller gefunden werden, um diese möglichst gewinnbringend zu verkaufen, um damit die kleinen Liebhaberprojekte zu finanzieren. Die Wahrheit ist: Schaut man auf die großen Publikumsverlage rotten sie Ihre eigenen Liebhaberprojekte Jahr für Jahr zunehmend aus, sie marginalisieren sich selbst und reduzieren sich um ihre eigene Progressivität. Schon jetzt: ein Cover knalliger als das nächste, ein Klappentext idiotischer als der andere. Eine Influencerin mehr auf dem Buchmarkt und eine Autorin weniger, die davon leben kann.

Wer die Literatur liebt, der kann nicht eins mit der Frankfurter Buchmesse sein. Echte Literatur, echte Literatinnen werden auf Lesungen in die letzte Ecke der Hallen versetzt, während die, die es zu Erfolg, aber nicht zu handwerklichen und stilistischem Können geschafft haben, bei FAZ und Süddeutsche sitzen und von einem wachsenden Publikum angegafft werden, weil diese Autorinnen und Autoren ihnen das Bild vermitteln, DAS sei jetzt die Literatur, Literatur sei so greifbar und so nahbar, wie der nächste Instagramstar, so einfach und doch so bürgerlich. Nichts in den Hallen, was wehtut, was marginalisierte Stimmen wirklich sprechen lässt, und wenn doch, dann können wir sicher sein, dass es schon bald eine eigene Programmsparte dafür geben wird, die sich selbst vernichtet.

Jedes Jahr wird das Theater scheinbar uraufgeführt, wenn der Buchmarkt sich schon lange auf seiner eigenen Backlist abspielt. Die, die bereits das 12 Manuskript anfangen, aber keinen Verlag finden, weil das Thema gerade nicht passt; diejenigen, die handwerklich begabt sind, aber nicht in einer Talkshow sitzen wollen: Die repräsentieren die Literatur wie niemand sonst. Da spielt sich etwas im Dunkeln ab, wovon die hell erleuchtenden Hallen auf der Buchmesse nur träumen können. Ja, die feuchtesten Träume der Agentinnen, Lektorinnen und Verlegerinnen handeln davon, das nächste Talent zu entdecken, nur um dieses wieder der Reproduzierbarkeit zuzuführen und alles an Einzigartigkeit daran zu zertrümmern. Die letzte Rebellion? Für sich zu schreiben, bei sich zu bleiben, den Triumph der Bücher produzierenden Fabrikhallen zu ertragen und auf die große Revolution zu warten. Zehntausende von unentdeckten Literatinnen werden zugrunde gehen, ohne je veröffentlicht zu haben.

Qualität setzt sich nicht durch – der Wandel des deutschen Buchmarktes

War früher wirklich alles besser? Ein kurzer Blick in die Buchhandlungen belehrt uns einer traurigen Wahrheit. Inhaltliches spielt kaum mehr eine Rolle, nur knallige Cover, steile Thesen und literarisch unbegabte Influencerinnen bestimmen jetzt den Markt. Die große Verliererin ist die Literatur selbst – und alle, die sich ihr fälschlicherweise verschrieben haben.

Wer jetzt noch schreibt, ist selber schuld. Nichts wird auf dem populären Markt gefördert, dass sich ein wenig fernab des Mainstreams bewegt; nichts mehr, was nicht mit einer bombastischen Idee beginnt und in großen, aber luftleeren Verkaufszahlen endet. Die Bewegung L’art pour l’art ist endgültig gestorben, zumindest so, wie wir sie aus dem Frankreich des 18. Jahrhundert kennen. Das war zwar auf lange Sicht zu erwarten, aber das Internet hat diese Entwicklung drastisch beschleunigt.

Vorbei die Zeiten, in denen man noch ein raues Textwunder in den Bücherregalen sah, aus dem etwas hätte werden können. Heute sind diese ungeschliffenen Diamanten schneller abgeschrieben als eine schlecht laufende Staffel bei Netflix. Wo folgen wir denn noch der Entwicklung eines Künstlers vor den mitlesenden Augen der Leserinnen? Wer will sich diesem wirtschaftlichen Wahnsinn eines unverkäuflichen Genies hingeben? Dabei horten die großen Publikumsverlage das Kapital dafür. Kleine Verlage tun alles, um die Literatur zu retten. Sie alleine sind zu schwach.

Publikumsverlage sind viel zu sehr damit beschäftigt, nach der nächsten großen Idee, der nächsten großen „Persönlichkeit“ zu suchen, die eigentlich keine ist, weil sie sich im Rahmen der Vorzeigbarkeit wähnt. Dass gute Literatur stets einer exzentrisch gearteten Persönlichkeit folgt? Dieser Grundsatz ist gestorben. Exzentrik ist überhaupt nicht mehr gefragt, nur in den strengen Parametern des „Anderssein“ ist Platz für die neuen angepasst unangepassten Schriftstellerinnen. Überhaupt der Beruf Schriftstellerin! Ist man nicht immer gleich Marketingexpertin, Influencerin, Social Media Beauftragte zugleich? Ist das neue künstlerische Selbst nicht so durchorganisiert, dass jeder individuelle Atemzug auf dem Blatt im Keim erstickt würde? Schriftstellerinnen sind nicht mehr ausschließlich damit beschäftigt aufs Papier zu bringen, was sie berührt. Authentische Kunst hat selten Backlist-Wert.

Derweil steigen jährlich die Umsatzzahlen im Segment populäres Sachbuch – und die Leute werden trotzdem immer dümmer. Letztlich werden auch vielversprechende Autorinnen in diese Sparte hineingezogen, auch wenn sie einst von der großen Literatur träumten, und jetzt nicht mehr wissen, wo sie hingehören. Weil Verlage einfach alles dafür tun, Ideen in Produkte zu verwandeln und nichts, um eigene Stimmen zu fördern.

In den Agenturen werden laufend initiative Mails an Influencerinnen rausgehauen, die mit großen Followerinnenzahlen auffahren. Ob man nicht schon mal daran gedacht habe, ein Buch zu schreiben? Natürlich, wer hat denn nicht daran gedacht in dieser Welt! Aber wer es bis jetzt nicht gemacht hat, während er diese Zeilen liest, der ist nur ein elender Simulant, eine Schriftstellerin schon gar nicht – und doch: diese Menschen zieren die Cover unserer Zeit. Denn zu eng beschrieben sind die Seiten des heutigen Marktes. Zu eng geplant die Programme der großen Verlage. Fehltritte werden ausgemerzt, indem man Leute einkauft, die selbst genug Käuferinnen mitbringen. Ob diese schreiben können, ist nicht wichtig. Naiv bleibt diejenige, die meint, auf dem großen Buchmarkt gehe es um Literatur. Denn auf dem Markt geht es um nichts mehr und damit paradoxerweise um alles: um den Darm, den sexuellen Fetisch, um kitschige Familiengeschichten und den großen Herzschmerz. Die Literatur ist endgültig verkauft worden und wir haben alle dabei zugesehen.

Was wird von uns bleiben? Was wird der Buchmarkt über uns in 100 Jahren aussagen? Trostlos ist das Zeugnis, das unsere Bücherregale, die immer auch ein Abbild der Gesellschaft abgeben, über uns zeigen. Niemand mehr, der unvermittelt auf den Seiten zu uns sprechen darf. Der eine kleine Geschichte zu einem großen Universum formt; nie gelesen und gehört, weil er nicht rechtzeitig bei Instagram war. Überall in zweiter Reihe diese verlorenen Seelen, die sich das Herz aus dem Leib schreiben, die etwas sagen wollen, etwas ändern, aber die auf ihren Blogs, in den kleinen Verlagen hoffnungslos untergehen. Wie viele große Autorinnen hat diese Generation verloren? Wie viele Stimmen bleiben für immer ungehört? Ja: Wie viele Künstlerinnen hat dieser Markt letztlich auf dem Gewissen? Alles hat sich auf diesem Buchmarkt durchgesetzt. Einfach alles. Auf der Strecke bleibt alleine die Qualität.

Los Vigilantes

Die meisten Korrespondenten waren schon lange aus Venezuela abgezogen. Jetzt wollte ich schwitzend an meinem Laptop sitzen und Stories produzieren, wie es Joan Didion und Hunter S. Thompson vor mir getan hatten, ich wollte für das gesehen werden, was ich gerne gewesen wäre: ein unerkanntes Talent, das nur die richtige Story für sich finden musste, um unendlichen Ruhm zu ergattern.

Unter den Wolken blitzten Hochhäuser hervor. Was für eine Stadt, die sich mir da offenbarte in der schimmernden Dunkelheit der aufkommenden Nacht. Lichter, die sich in allen Farben durch die bergigen Landschaften und Barrios zogen, die das Tal der Stadt umgarnten.

Mir war noch nicht klar, wie lange ich in Südamerika bleiben würde, aber ich wusste, dass ich die Schnauze voll hatte von diesen unverbesserlichen Deutschen, die ihren stupiden Regeln bis in die Unendlichkeit folgten und dabei keinen Funken Kreativität bewiesen, es sei denn, sie bekamen den Auftrag dazu.

Kristian, der Bruder der Hostelbesitzerin, in dem ich die nächsten Wochen wohnen würde, holte mich mit dem Wagen vom Flughafen ab. Wir fuhren an den bergigen Vororten entlang, es war mittlerweile dunkel. Stellenweise funktionierten die Straßenlichter nicht mehr und dann gab es wiederum Barrios, in denen es rot, blau und gelb schimmernd zu uns hinab leuchtete. Ich beobachtet eine Meute Venezolanerinnen, die am Rande eines Marktes Früchte aus einem Supermarkt heraustrugen. Ich sah Menschen, die in Müllsäcken herumsuchten. An einer Straßenecke rannte ein Kampfhund auf unseren Wagen zu.

„Das sind die Armenviertel“, erklärte Kristian, der unruhig den Wagen durch die holprigen Straßen lenkte. „Die darfst du niemals alleine betreten.” Ein Taxi wäre zu riskant gewesen, schon in einem Forum hatte man mir gesagt, dass ich diese mit dem Tod bezahlen könnte. Ich grinste, hielt das für eine Übertreibung. Aber Kristians Blick heftete weiter ernst auf der Straße.

Ich öffnete das Fenster seines alten Fords ein Stück, etwas fühlte sich anders an in diesem Land. Anders als in China, Russland oder auch Kuba. Länder, die ich trotz ihrer Andersartigkeit und repressiven Regime mit Freude und Neugier hatte bereisen können. Ich spürte die Gefahr, die ich hier gebucht hatte, an jeder Ecke. Ich wollte mich ihr hingeben. Es war offensichtlich, was in diesem Land passierte. Die Ordnung war aus dem Ruder gelaufen. Ich sah auf der Straße, wie ausgemergelte und verwahrlost dreinblickende Venezolaner einen Bissen erhaschen wollten, indem sie ihren Mitmenschen ihr Wichtigstes wegnahmen. Überhaupt schien die ganze Stadt unterwegs zu sein. Auf der Suche nach etwas, das ihnen schon morgen nützlich sein würde. Waschmittel, Äpfel, Schnürsenkel. Ich sah, wie ein Straßenverkäufer ein Feuerzeug an einem Früchtestand angebunden hatte. Für einen wertlosen Bargeldschein, der nicht mal ein Achtel eines Cents wert war, zündete sich ein Vorbeigehender eine Zigarette damit an.

„Siehst du da oben das Gebirge?“, fragte Kristian.

Im Dunkeln reihte sich eine riesige Kette davon vor uns auf.

„Das ist das Avila-Massiv.“

Ich hatte noch nie etwas über für die Flora und Fauna eines Landes wissen wollen, ich fand das langweilig, aber in Caracas faszinierte mich alles. Das normale Leben war aus seinen Fugen geraten – umso mehr hielt sich Kristian jetzt an die Schönheiten seines Landes fest. Es erwies sich als unmöglich, von den großen Gebirgen nicht beeindruckt zu sein. Besonders in diesen Zeiten der Unruhen wirkten sie wie ein fester Ausblickspunkt, an dem viele ihre Hoffnung hefteten.

„Ich kann dir noch viel mehr zeigen“, sagte er. „Ich kenne mich gut hier aus, als ich noch gearbeitet habe, war ich Touristenführer.“

„Und jetzt arbeitest du nicht mehr?“

Er schaute in die Dunkelheit. „Hast du einen einzigen Touristen außer dir am Flughafen gesehen?“

Noch immer wusste ich nicht, wo dieser mir noch fremde Mensch mich hinbringen würde. Er hätte mich ebensogut umbringen können, mir Laptop, Kreditkarten und Smartphone abnehmen. Wahrscheinlich hätte das nicht einmal die Regierung gestört. Und die meines Landes hätte wohl zu wenig Befugnisse, um meinen Mord ausreichend aufzuklären. Und doch brachte er mich bis vor die Haustür meines Hostels.

Ich wusste, dass das Hostel im Stadtteil Capitolio lag, dem Regierungsviertel. Zentral, unweit der wichtigsten Sehenswürdigkeiten, von denen ich mir nicht sicher war, ob sie momentan das Interessanteste an diesem Land waren. Ich hatte weder das Hostel, noch die Familie, denen es gehörte, in meinem Leben gesehen. Die Bewertungen im Internet stammten allesamt aus den Jahren, als Hugo Chávez an der Macht gewesen war. Hatte ich eine andere Wahl? Dies war das einzige Hostel in ganz Caracas und meine Buchung kam der Familie Acosta gerade recht. Sie hatten seit Monaten keinen Gast mehr gehabt und jeden Cent, den sie verdienten, steckten sie in die Vorbereitungen auf das Kind, das bald geboren werden sollte. Patrizia, die das Hostel gemeinsam mit ihrem Freund Matias, einem gebürtigen Argentinier, betrieb, war hochschwanger.

„Such dir eins aus.“ Patrizia führte mich in das Zimmer mit drei Hochbetten. Ihren Bauch trug sie schwer vor sich her, aber nicht eine einzige Sekunde verlor sie ihr Lächeln. Ich nahm das Bett direkt an der Tür und ging ohne Essen schlafen. Wo hätte ich auch welches auftreiben sollen, wenn ich mich alleine nicht raus traute, wenn ich kein Geld besaß, das in diesem Land akzeptiert wurde?

Ich war in Südamerika, Venezuela, das war die pure Gefahr, wie sie mir in den Reiseführern hatten weismachen wollen. Meine Karriere schien vorbei, der erste Schuss war der vermeintlich Letzte gewesen, aber ich war noch jung und hatte jetzt einen anderen Plan, weil ich Zeit hatte und wenig Geld: zwei Komponenten, die eine Freiheit versprachen, die einiges an Nervenkitzel bot. Warum zur Hölle hatte mich keiner aufgehalten?

Gegen den Faschismus – Die Stimmung vor der Wahl in São Paulo

Mulheres contra o facismo, steht auf einer riesigen Bande. Frauen gegen den Faschismus.

„Ele não“, schreien die Tausenden von Menschen, die heute auf der Straße in São Paulo sind. Sie kommen aus allen Gesellschaftsschichten, aus der LGBT-Community und von diversen Frauenverbänden. Ihnen scheint es beinahe egal, für wen die 147 Millionen Wahlberechtigten in Brasilien stimmen werden. Hauptsache nicht für Jair Bolsonaro.

Der extrem rechte und der PSL zugehörige Kandidat wird bereits weltweit mit Donald Trump verglichen. Auf der Straße sieht man heute allerdings viel öfter eine Fotomontage, auf dem seine linke Gesichtshälfte mit der von Hitler ausgetauscht wurde.

„Wie kann jemand für dieses Arschloch nur einen Funken Sympathie übrig haben?“, schreit Anna in ihr Megafon. Die 27-jährige Studentin zeigt keine Angst, als sie scheinbar jeden hinter ihr laufenden Demonstranten persönlich anspricht. „Er will unsere Rechte eingrenzen. Habt ihr das nicht kapiert?“ Bolsonaro sagte einmal in einem Interview, dass er nur einen schwachen Moment hatte, als er eine Tochter zeugte. Aber die Frauen, die heute auf die Straße gehen, sind nicht schwach. Sie sind hier, um ein für alle mal ein Zeichen zu setzen.

„Lateinamerika braucht einen Feminismus, keinen Machismus“, schreit eine Gruppe älterer Frauen an einer anderen Ecke. Eine davon hat die Militärdiktatur Brasiliens noch klar vor Augen. „Bolsonaro verherrlicht die Zeiten, die so viele Leben und so viel Angst gekostet hat. Die jungen Wähler, die für ihn stimmen, wissen nicht, was wir durchgemacht haben.“

Regenbogenfahnen wehen durch die Luft, ein Orchester hat sich zusammengefunden, um Lieder für den Widerstand anzustimmen. Einige tanzen, andere trinken aus Bierdosen.

Der 22-jährige Software Engineer Feliz steht etwas abseits, schaut sich den Protest aus der Entfernung an. Er wird für Bolsonaro stimmen, das sei ihm seit Wochen klar. Er wisse, dass der Mann ein schlechter Mensch sei, sagt er. Aber die Fehler die Lula und die PT gemacht hätten, dürfe sich dieses Land nicht noch einmal leisten. „Ich habe mich auf Youtube informiert“, sagt er.

So wählen nicht wenige Brasilianer Jair Bolsonaro aus reinem Protest. Fernando Haddad, der Nachfolger Lulas, der für die Arbeiterpartei PT antritt, weil Lula selbst wegen Korruption im Gefängnis sitzt, hat zumindest gute Chancen, in die Stichwahl mit Bolsonaro einzuziehen. Andere Kandidaten, wie die Umweltschützerin Marina Silva, die bereits zum dritten Mal zur Wahl antritt, hat nur mäßig gute Umfragewerte erzielt.

Der Protest bleibt friedlich. Auch, als er an einer Stelle stockt, an der viele Polizisten sich versammelt haben. Die Demonstranten fordern diese mit Sprechchören auf, die Seite zu wechseln und gegen den Faschismus mitzulaufen. Was nach der Aufforderung nach einem Putsch riecht, ist bald verflogen. Die Polizisten lächeln müde. Die Meute zieht weiter.

Es ist mittlerweile dunkel in São Paulo und über dem Theatro Municipal kreisen Hubschrauber. Einige Angestellte in einem Supermarkt rennen auf die Straße und winken den Demonstranten zu. Immer wieder hupen Autos aus der Ferne und Passanten klatschen. Das Gebäude ist erleuchtet und in seinem Lichtkegel platzieren sich die Demonstranten mit Plakaten. Es sind wütende Gesichter voller Anstrengung, voller Sorge. Spätestens jetzt wird jedem Außenstehenden klar, dass es für Brasilien heute um alles geht.

Weiße Nächte in Medellín – „Netflix hat alles kaputt gemacht“

Filip kratzt nervös an seinem rechten Arm, er schiebt sich die langen Haare hinter die Ohren. Die Nacht in Medellín ist heiß und ungeduldig. Heißer, als in den Anden Bogotás und rauer als an der sanfte Küste Cartagenas. Er macht ein Auslandssemester in dieser Stadt, hat die Uni nur ein Mal von innen gesehen. Er ist wegen etwas anderem hier.

„Hast du alles?“, fragt Filip seine niederländische Begleitung.

Sie nickt, zündet sich eine Zigarette an. Dann schiebt sie ihm die kleine Tüte mit weißem Pulver zu.

Anders als in Europa stehen die Studenten nicht lange an, um in den angesagtesten Techno-Club der Stadt, das Top Secret, zu kommen. Sie klopfen an eine schwere Metalltür, ein dunkler Arm zieht sie hinein. Das Gebäude ist unscheinbar, reiht sich in den Block als grauer Klotz mit ein. Wer zu lange vor der Tür steht, erregt Aufmerksamkeit.

„Ecstasy, Marihuana, Kokain?“ So eröffnet ein Mann mit venezolanischem Akzent seine Produktpalette, als die Ankömmlinge sich im schummrigen Vorraum des Clubs Überblick verschaffen. Die Existenz des Clubs soll geheim bleiben. Filip hat über eine kleine Facebook-Gruppe davon erfahren, er weiß, dass er sich hier die ganze Nacht mit Drogen versorgen lassen kann. Für wenige Pesos.

Im El Poblado, dem Gringo-Hipster-Viertel Medellíns, werden Weiße derweil offenkundiger mit den zwei verheißungsvollen Silben in die dunkelsten Straßenecken gelockt: Co-ca, Co-ca?

Die Polizei scheint das nicht zu kümmern auf den von Lampions erleuchteten Gassen, die an jene Neapels erinnern. Dabei hat sich in den Hostels längst herumgesprochen, dass der Kauf bei Unbekannten gefährlich ist. Erst kürzlich ist ein Franzose an mit Rattengift gestrecktem Kokain gestorben.

Im Top Secret schrecken diese Geschichten niemanden ab. Es ist 2 Uhr in einer Stadt, in der die meisten Clubs schon geschlossen sind. Aber Europäer sind Späteres gewohnt, schon bald werden sie die Tanzfläche für sich einnehmen. Mittlerweile legt eine Indigene Techno auf, das freut die Kulturbegeisterten vom entfernten Kontinent, die jetzt aus allen Ecken der Stadt in den Club strömen. Eine echte Berlin Experience liegt in der Luft, Latinos trifft man nur für den Verkauf von Coca. So stolpert auch Filip im Top Secret in eine Parallelwelt, die sich ganz und gar dem Drogentourismus verschrieben hat. Wer hier dem Richtigen die Hand schüttelt, hält sogleich ein Gramm in der seinen. Engländer, Deutsche, Franzosen und Spanier frönen öffentlich dem Konsum. Die vom Weißen umrahmten Nasenlöcher werden von kreisenden Neonlichtern erleuchtet – mitten auf der Tanzfläche.

Medellín besteht aus 256 Barrios mit 2,5 Millionen Einwohnern. Die meisten davon wurden bis in die Neunziger Jahre vom Krieg zwischen der Guerillaorganisation FARC, verschiedenen Paramilitärs und Kartellen eingenommen. Erst Pablo Escobar, der bekannteste Drogenbaron der Welt, vermochte es, sie durch seine Geschäfte zu vereinen – und dabei unzählige Menschen zu töten. „Es war für uns normal, den Blutspuren auf dem Weg zur Schule zu folgen“, erzählt der Tourguide Leonardo bei einer Führung durch die Comuna 13, das ehemals gefährlichste Barrio der Stadt. „Weißt du, wie sich das anfühlt, wenn Tausende Gringos in unser Land stürmen, nur um eine schnelle Line zu ziehen?“

In Kolumbiens ländlichen Gebieten explodiert derweil der Kokaanbau. Das Cali-Kartell, das nach Escobars Tod die Distribution übernommen hatte, wurde von der kolumbianischen Armee zerschlagen. Auch die FARC wird nach und nach abgerüstet, ein Friedensprozess unter Ex-Präsident Santos führte zumindest offiziell zu deren Resozialisierung. Und doch hängt die Existenz vieler Kleinbauern von der Produktion ab. Der Verdienst ist mager, aber lukrativer als der Anbau von Bananen.

In der Hauptstadt Kolumbiens in Bogota, wimmelt es fast täglich von Drogenhunden, beinahe an jeder Straßenecke und besonders im Touristenviertel La Candelaria. Hochbewaffnete Polizisten führen Razzien in aller Öffentlichkeit durch, indem sie die Rucksäcke der Kolumbianer und hierher geflüchteten Venezolaner durchsuchen. Präsident Duque kündigte bereits eine härtere Drogenpolitik an. Da Kolumbien weltweit noch immer größter Kokaproduzent ist, ist sein erklärtes Ziel die Kokapflanzen mit Drohnen auszurotten.

„Einige Touristen koksen auf dem Dach, auf dem Escobar angeblich erschossen wurde“, erzählt Leonardo, als die Touristen von den Höhen der Comuna 13 aus auf die Stadt schauen. Sie sind mit Rolltreppen hochgekommen, ein weiteres Projekt der Stadt, um die Comunas in der Stadt sichtbarer zu machen. Sein Blick geht weit und ist doch von Steinhäusern eingeschlossen. Er schaut sich um, eigentlich darf er den Namen Escobar hier gar nicht aussprechen, bisweilen benutzt er ein Pseudonym.

„Wer in der kolumbianischen Kultur nur Kokain sieht, der weiß nicht, was wir durchgemacht haben“, sagt Leonardo. „Netflix hat alles kaputtgemacht.“ Er zeigt auf ein Graffiti des Künstlers Chota 13. Das Bild steht für die Transformation der Stadt. Seit einer der bekanntesten Drogenbarone der Welt tot ist, haben viele Hoffnung, dass das Leben hier einfacher wird – und dass es so bleibt. Einiges spricht dafür. Das Wall Street Journal hat Medellín 2013 zur innovativsten Stadt der Welt gekürt.

Filip trinkt einen kolumbianischen Kaffee, um wach zu bleiben. Die ganze Nacht hat er nicht geschlafen, so wie viele andere Touristen in dieser Stadt. Bald wird er wieder nach Bergen abreisen, für ihn war Medellin nur eine kurze Station auf seinem Lebensweg, gezeichnet von billigen Drogen und durchtanzten Nächten. Die 50 Millionen Kolumbianer aber werden weiterhin an ihre Geschichte gebunden bleiben.

Seehunde unter Sternen

Jemand hat sich in Cabo Polonio umgebracht. Zwar 2017 schon, aber die Geschichte hängt diesem Ort nach. Bei knapp 100 Einwohnerinnen ist das ein Schicksal, das jeden Dorfbewohner und jede Dorfbewohnerin etwas angeht, genau wie eine Geburt oder eine Hochzeit. Der Mann war Alkoholiker, wurde von seiner Frau verlassen und lebte seitdem abgeschieden in einem der Steinhäusern, wie sie für diesen Ort typisch sind. Der Hausbau folgt strengen Regularien, auch verlangt der einzige Holzhändler der Region, dessen Familie sich vor Jahrzehnten ein Monopol aufbaute, horrende Preise für diese Ressourcen. Beinahe unerschwinglich, auch für die Einwohnerinnen, deren Einkommen durch den Tourismus rapide gestiegen ist. So behelfen sich die vom Rest des Landes abgeschiedenen Einwohnerinnen mit Kunst und Malereien. Fast jedes Haus hat einen bunten Anstrich, oder ein Graffiti auf den Holzplatten, die von weit her zu sehen sind.

Alleine der Klang des Namens dieser kleinen Ortschaft an einer oberen Spitze des Atlantik lässt die meisten Uruguayerinnen mystische Geschichten erzählen. Magisch soll es hier sein, hippiesque, aber niemals hinterwäldlerisch. Dass die wenigen Hostels kein Wifi anbieten, ist eine Entscheidung der Besitzerinnen. Auch laufendes Wasser und Elektrizität sind eine Seltenheit. Dafür kann man bei wolkenlosem Himmel die Galaxie bestaunen, den rundgeformten Sternenhimmel, der Cabo Polonio wie unter einer Kuppel festhält. Wie ein Versteck vor der Welt da draußen, die den Wettkampf um die Aufmerksamkeit der Menschen längst eingegangen ist

Weiter oben, nicht weit vom Ortskern, liegen feinsandige Dünenlandschaften. Auf der anderen Strandseite findet sich eine der größten Seehunde-Kolonien der Welt. So liegen sie hier, getrennt von der Bevölkerung durch ihre tiefere Lage, auf dicken Felsen, meist den ganzen Tag, dramatisch umrahmt von den schäumenden Wellen, die kurz vor ihnen Halt machen und wieder in das Meer zurückfließen. Einige streiten sich, andere liegen herum, wieder andere verschwinden im Wasser. Wenige sieht man leblos am Strand liegen. Das ist kein Skandal, der hier aufgedeckt werden könnte, sondern das Spiel der Natur. Und tatsächlich gewöhnt man sich nach einigen Strandspaziergängen an den Ausblick auf eines von der Sonne ledrig beschienenen Seehundekörpers, der von Moskitos befallen ist.

Betritt man das Hostel von Alejo, das Lo de Alejo Hostel, betritt man eine andere Welt. Es gibt kein Haustürschloss und die Toilette wird mit einer Wanne voller Wasser durchgespült. Über dem kleinen Kamin hat einst eine argentinische Jazzband ein Mandala auf Stein gemalt und Touristinnen haben ihm Bücher auf ihren Reisen dagelassen, die vergilbt und zerfleddert auf einem Regal liegen. Zwar hat er keinen Router im Haus, aber dafür Internetempfang auf seinem Smartphone. Der Sommer naht in diesem Teil des Kontinents und damit auch die Ankunft der Touristinnen. Bis zu 1500 können es in der Hochsaison werden. Sie nehmen den Bus von Montevideo bis zum Terminal von Cabo Polonio. Dort werden sie auf die großspurigen Trucks aufgeteilt, die sie in den Nationalpark fahren.

Alejo werkelt seit Wochen an seinem Häuschen herum, er will eine Dusche aufbauen – diese sind nicht selbstverständlich für Cabo Polonio – und ein Wassertank soll an dem Brunnen angeschlossen werden für fließendes Wasser. Schon lange überlegt er, sich WiFi zu besorgen, denn die Touristinnen fragen wirklich alle danach. Neuerdings hat eines der Hostels im Ort den Zugang im Angebot. Bei bis zu 40 US-Dollar, die man bei Alejo pro Nacht bezahlt, wäre die digitale Verbindung ein logischer Gedanke. Aber ist es nicht die Abgeschiedenheit wegen der viele herkommen?

Alejos Bruder betreibt das Green Hostel zwei Gehminuten auf dem Sandweg entfernt, denn Straßen gibt es in Cabo Polonio nicht. Bei Nacht lotst er die Ankömmlinge mit einer grünen Laserlampe zu seiner Unterkunft und trägt zusätzlich eine Taschenlampe am Kopf. „Da oben kann man den Mars sehen“, erklärt er und richtet seinen Laser in die Richtung. Nicht nur der Selbstmord des alten Mannes hat das Leben in Cabo Polonio verändert und seine Bewohnerinnen nachdenklich gestimmt. Vor zwei Jahren ging eine Einbruchserie los, geführt von einer Bande aus Valizas, dem nächstgelegenen Dorf. Sie waren in das Green Hostel eingedrungen und hatten den Touristinnen ihr Geld unter dem Kissen weggeklaut. Ein Schloss würde er aus Prinzip nicht kaufen, Vertrauen unter den Nachbarn gehört zu Cabo Polonio dazu. Aber da es keine Polizei gibt, ist er damals mit den Nachbarn nächtelang auf Streife gegangen. Gepackt hatten sie niemanden.

Alejos Bruder ist vor wenigen Monaten Vater geworden. Wird eine Frau in Cabo Polonio schwanger, muss sie das letzte Quartal vor der Geburt in der nächstgelegenen Stadt verbringen. Zu gefährlich wäre eine Geburt hier, wo es keine Krankenhäuser oder Ärztinnen gibt. Kaum vorstellbar ist so ein der nicht aus Armut auf lebenswichtige Errungenschaften verzichtet, sondern aus eigenem Antrieb. Aber es ist alles wahr: Cabo Polonio existiert in seiner einfachsten Form. Die Frage bleibt, wie lange noch.

Nachts wirkt dieses Fleckchen fast geisterhaft, wenn man durch den winzigen Ortskern streift. Die Bars und Restaurants sind mit Kerzen ausgeleuchtet, vor einigen gibt es eine Feuerstelle. Der Spaziergang wirkt wie eine Rückkehr in ein Zeitalter vor Edison – und im Hintergrund rauscht ein weißer Schaumteppich an den Strand, vom Mondlicht erleuchtet. Es ist, als würden die Bewohnerinnen sich an die Dunkelheit anpassen, laut ist es nicht, auch findet sich hier kein touristisches Gewusel, allerdings ist die Hochsaison noch nicht angelaufen.

Nico und seine Freundin Letitia sind jeden Frühling hier. Sie mieten sich ein kleines Holzhaus, wo es weder Strom noch Wasser gibt. Sie sind vollbepackt mit Klamotten, Bettzeug, Kerzen und Campingstühlen. Alleine ihre Nahrung kaufen sie im Ort, der ein wenig an Tante Emma Läden erinnert. Jeden Morgen liefert ein Truck neue Lebensmittel aus der Stadt auf die ein dreifacher Preis geschlagen wird, weil die Anschaffungskosten mitbezahlt werden. Nico liebt diesen Ort nicht nur, weil er hier ungestört Marihuana rauchen kann – in ganz Uruguay ist der Konsum zwar erlaubt, aber dennoch nicht gerne gesehen – sondern auch, weil der Geist dieses Ortes ihn begeistert. „Du bist frei, es gibt nichts, was du zu tun hättest. Nichts, als die Seehunde zu beobachten und den Tag am Strand zu vebringen.”

Es ist Samstagabend und Alejo sitzt heute alleine in seinem Wohnzimmer, die Gäste sind im Club Estacion Central, abgestiegen, die einzige Disko in Cabo Polonio. Der Kamin wärmt seine Füße, die Flasche Rotwein ist bis zur Hälfte geleert. Letzten Sommer war er 3 Monate lang in Europa unterwegs, dort habe es in den Hostels auch überall WiFi gegeben, warum das hier nicht der Fall sein solle, erschließt sich ihm nun auch nicht mehr. „Ich weiß schon, weswegen wir hier besucht werden“, sagt er. „Aber müssen wir wegen der Ruhe vor der lauten Welt unbedingt auf Modernität verzichten?“ Er scheint dabei in Richtung des Green Hostels zu schauen, scheint seinem Bruder auf eine lang gestellte Frage zu antworten.

Aber die Seine wird heute unbeantwortet bleiben, an diesem Abend in Cabo Polonio, der so langsam vergeht, wie ein Tatort am Sonntagabend. Die Sterne scheinen heute das brüchige Häuschen zu umrunden, aber um sie zu sehen, muss man sich hinaus trauen auf die sandigen Wege, die der Nacht ein wenig Helligkeit verleihen. Das Licht des Leuchtturms braucht knapp 12 Sekunden, um einmal über ganz Cabo Polonio hinwegzustreichen. Romantisch und entschleunigend ist das für Touristinnen. Eine Banalität für die Einwohnerinnen. Denn auch in Cabo Polonio nimmt sich manchmal jemand das Leben. Trotz aller Abkehr vom modernen Leben.

Hauptsache nicht mit dem Flugzeug

Der Sommerurlaub ist da, das Flugzeug keine Option mehr. Drei Helden des Alltags verweigern sich dem Fliegen restlos.

Gelinde von Schöning wohnt in einer Eigentumswohnung im Prenzlauer Berg. Erst kürzlich hat sie eine 82-jährige Langmieterin wegen Eigenbedarf aus der Wohnung geschmissen. In ihrer Zweitwohnung in Neukölln wohnt Gerlindes Katze. Fliegen sei für sie gar kein Thema mehr, seit das Thema Flugshaming in aller Munde ist. „Für mich ist jeder, der in einen Flieger steigt, ein Mörder!“, sagt Gerlinde, die erst vor Kurzem aus Bali zurückgekommen ist und seitdem keinen Flieger mehr bestiegen hat. Damit, so Schöning, befinde sie sich in guter Gesellschaft. „Meine Vorfahren aus Sachsen sind im Jahre 1434 schon nicht geflogen“, erklärt Gerlinde auf Nachfrage. Das habe sich über mehrere Jahrhunderte hingezogen. Kein einziges Flugticket sei ihr in ihrer Recherche um die Familiengeschichte untergekommen. Nur ab dem 20. Jahrhundert gebe es da einen blinden Fleck. Über den will sie nicht reden, dazu habe sie außerdem kaum Nachweise gefunden. Ansonsten ist Schöning stolz aus einer „moralisch einwandfreien Familie“ zu stammen, so die Ur-Enkelin eines um 1945 nach Chile ausgewanderten Funktionärs. „Ich fliege erst, wenn man mich zwingt“, gibt Gerlinde Schöning gerne nach. „Wegen eines Gewinnspiels zum Beispiel, oder wenn ein interessanter Yoga-Kurs in einem ayurvedischen Center in Malaysia angeboten wird.“

Elfriede Selig sitzt alleine in ihrem abgedunkelten Wohnzimmer, ihren Namen hat die Redaktion geändert. Eigentlich heißt sie Elfriede Schröder. Für sie ist das Fliegen ein heikles Thema. Normalerweise würde sie gerne in das allgemeine Flugshaming mit einstimmen, aber sie kann nicht. „Mir fällt es schwer darüber zu sprechen“, räuspert sich Selig. Aufgrund einer schweren Krankheit müsse sie mehrere Male im Jahr in eine europäische Großstadt fliegen. Mit zitternden Händen zeigt sie das Attest. „Ich leide unter einer bipolaren Burnout-Depression mit schizoiden Angststörungs-Symptomen“, gibt Selig zu. „Deswegen bin ich auch zum Fliegen verdammt.“ Sie fände es ja selber nicht angenehm, jeden Monat eine neue europäische Großstadt zu besuchen. Aber jemand der so schwer erkrankt sei, könne sich sein Schicksal nicht aussuchen. „Es ist nicht einfach, die bedeutendsten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte zu bestaunen, während andere für das Klima kämpfen“, so Selig. Der Zug sei für sie trotzdem keine Option. „Ey weißt du wie anstrengend das ist, jeden Monat 20 Stunden im Zug zu sitzen??“, wird Selig plötzlich ungehalten. Dann entschuldigt sie sich, noch sei alles ganz frisch.

Stolz schaut Harald Martenstuhl auf seinen Garten. Den pflegt er seit über 40 Jahren, seither hat er nicht ein einziges Mal seine Heimatstadt Duisburg verlassen. „Ich muss nirgendwo hin“, propagiert er stolz. Und: Wer in den Flieger steigt, sei selber schuld. Deutschland, das sei ein schönes Land, immerhin sein Vaterland. Hier haben seine Vorfahren im Graben gelegen, hier hatten die alten Germanen alles Nötige in die Wege geleitet, um Deutschland zu einem besonders schönen Urlaubsland zu machen. Warum man woanders in den Urlaub fahren müsse, um seinen Horizont zu erweitern, begreife er nicht. „Hier gibt es doch alles, was ich brauche.“ Martenstuhl schaut sehnsüchtig zu seinen Gänseblümchen, die sich Richtung Sonne neigen. Wenn den 68-jährigen Rentner doch einmal die Sehnsucht packt, geht er zum örtlichen Flüchtlingsheim. Er arbeitet dort als Freiwilliger. Freiwillig beschimpft er das „schwarze Gesindel“, das sich da „herumtreibt“. Die Arbeit am Flüchtlingsheim würde ihn erden und genau die Prise Rassismus in ihm wecken, die es brauche, um nicht doch spontan in ein Flugzeug nach Syrien zu steigen. Positiv sehe er, dass die meisten Migranten per Schlauchboot nach Europa kämen. „Hauptsache nicht mit dem Flugzeug.“